Eine Beschreibung von Lengerich im Sommer 1993

Dörfer zwischen Feldern,
Wiesen und dem Wald

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Bevor ich in unangemessenes Schwärmen gerate ob des bei einem sommerabendlichen Rundgang Gesehenen nun doch einige Zeilen über das benachbarte Lengerich, das nicht Stadt ist, sondern Dorf, sogar noch bis vor 35 Jahren auch ganz offiziell so hieß, nämlich Lengerich-Dorf, und in unübersichtlicher Gemengelage mit der Gemeinde Lengerich-Bauerschaft verschachtelt war, bis Einsicht und Vernunft rechtlich zur Einheit werden ließ, was es faktisch längst war.

Vielleicht mehr noch als Freren hat sich Lengerich dörfliche Maßstäbe und Architektur bewahren können, zumal nach dem Bau einer Umgehungsstraße ein großer Teil des Durchgangsverkehrs nicht länger mehr unerträgliche Belastung für die Bewohner der doch recht schmalen Dorfstraßen ist. Die bis auf wenige Ausnahmen zweigeschossige Bauweise und im Dorfkern noch zahlreichen Häuser, die um oder vor der Jahrhundertwende entstanden sind, der als Baumaterial verwendete rote Ziegel, Giebelzier und in klassischer Manier geschmückte Fenster-Stürze lassen das Ensemble recht einheitlich erscheinen. An der Kirchstraße und Mittelstraße Fassaden, die dem Ort Individualität verleihen. In der Dorfmitte vor der reformierten Kirche nimmt ein Sandsteinbrunnen mit Pumpe den Platz ein, an dem man sich früher zum kleinen Schwatz traf. Auch hier der von Linden umstandene Kirchplatz, durch eine Mauer abgehoben vom übrigen Gelände, die den Verlauf der alten Kirchenburg andeutet. Wenige Schritte sind es hinüber zur Eichenallee und dem kleinen Park, der in den letzten Jahren, zum Teil auf dem Gelände der alten Burg Lengerich, angelegt worden ist. Von der Burg ist heute noch das Torhaus erhalten geblieben und restauriert worden. Nicht die Architektur des Maria-Anna-Hospitals, das sich gleich anschließt, will ich hier beschreiben. Das nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts von der Kaufmannswitwe Maria Anna Kramer gestiftete Anwesen enthält aber eine wenig bekannte, indes sehenswerte Hauskapelle, gestaltet von dem Osnabrücker Künstler Dominikus Witte.

"Lengerich ist wohl gelegen, nicht zu trocken nicht zu naß, hast bei Sonnenschein und Regen immer reichlich Korn und Gras ..." heißt es im vierstrophigen Lengericher Heimatlied, das bei besonderen Anlässen im Dorf gesungen wird. Ähnlich Freren liegt Lengerich am Rande eines Höhenrückens, von dem aus man von Lingen und Gersten her den Blick auf das Dorf erlebt. Erlebt ist dem aufmerksamen Beobachter das richtige Wort: Man fährt über die Kuppe des Hügels, da sind die Kirchturmspitzen und im nächsten Augenblick liegt hinter den Schwüngen der Straße das Dorf ausgebreitet mit Kirchen und vielen roten Dächern (die schwarzen übersieht man). Früher, vor dem Bau der Umgehungsstraße, bot ein weiterer Sakralbau, eine kleine Kapelle am Wegrand, dort, wo heute die westliche Dorfeinfahrt abzweigt, dem Näherkommenden eine erste Orientierung und schuf so einen Dreiklang mit der romanischen und der neugotischen Kirche. Ein schüchterner Ersatzbau am Dorfrand bleibt demgegenüber ohne Bedeutung.

Diesen positiven Eindruck zu vertiefen, hat die Gemeindeverwaltung hier und da nachgeholfen: Im Frühjahr blühen Margeriten und Klatschmohn an den Straßenrändern rund um das Dorf dürfen sogar weiterblühen, wenn nach dem seit Jahrzehnten feststehenden Terminplan der Straßenbauverwaltung eigentlich gemäht werden sollte. Beim Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" hat Lengerich im Regierungsbezirk Weser-Ems den zweiten Platz belegt. Wie in und um Freren herum gibt es neben bürgerlicher Architektur auch hier so manchen gepflegten Fachwerkgiebel auf den zumeist in Einzellage verstreuten Bauernhöfen, so auf dem Völkernhoek, Sopenhoek, Berlagenhoek und anderen Hoeken - das sind, nach Abels, abgelegene Ecken - solche auch in Langen, Gersten, Handrup und Wettrup.

Zur Freude über Gesehenes mischt sich die Wehmut über Gewesenes, unwiederbringlich Verlorenes: Da verschwindet unter Spitzhacken und Planierraupe so manches Gemäuer, das wirtschaftlich nicht mehr genutzt werden kann, ein kleiner Schuppen hier, ein stolzer Hof dort. In Wettrup war es das Rätkersche Bauernhaus, dessen farbiger Fachwerkgiebel zur nahen Kreisstraße herübergrüßte und das nicht mehr erhalten werden konnte, obwohl es dies mit seiner das Ortsbild prägenden Situation und Architektur verdient gehabt hätte. Aber finde einer einen Verwendungszweck für solch ein Gebäude - und die gute Million, die erst einmal für die Restaurierung aufzuwenden ist. Vorbei und erledigt, aber nicht vergessen. In Wettrup hat man da ganz andere Sorgen, denn auf Grund der Immissionsschutzbestimmungen ist es dort kaum noch möglich, Baugelände auszuweisen. Die anderen hier erwähnten Gemeinden sind da besser dran und die vielen Einfamilienhäuser zeugen nicht nur von hohen privaten und öffentlichen Aufwendungen, schließlich muß alles an Straßen, Wasserleitungs- und Abwassernetze mit zwei- und dreistufiger Behandlung angeschlossen werden; Voraussetzung für erträgliche Grundstückspreise ist auch eine kluge Baulandpolitik der Gemeinden, die ungerechtfertigte Spekulationen ausschließt. Sie ist erfolgreich praktiziert worden. Vergleicht man die Ergebnisse der Luftbildkartierung von 1958 mit derjenigen von 1973, wird einem der Wandel in diesem kurzen Zeitraum deutlich: Fast überall von Bawinkel bis Spelle und Venhaus sind neue Baugebiete entstanden, mit denen dem aus den einzelnen Orten kommenden Bedarf Rechnung getragen werden kann. Und die letzten zwanzig Jahre haben hier eine geradezu stürmische Entwicklung gesehen.

Und doch ist manches - wie auch um Freren herum - geblieben wie es schon immer war: Im Kirchspiel Lengerich, das vor der Errichtung eigener Pfarreien das Gebiet der heutigen Samtgemeinde mit Ausnahme von Bawinkel umfaßte, gibt es noch etwas, das in unserer Gesellschaft durchaus vorbildlich genannt werden kann: Die "Fastabende". Fastabend ist hier kein zeitlicher, sondern eher räumlicher Begriff. In den Fastabenden fühlen sich von Alters her die Bewohner benachbarter Hofstellen miteinander verbunden, helfen einander, feiern miteinander, sind aber auch bereit, wenn die Seitenräume der Wege gepflegt werden müssen. In Gersten zum Beispiel übernehmen die Fastabende auch die Pflege der Friedhofswege. Man hilft und unterstützt einander. Sechs oder acht und bis zu 40 Häuser können einen Fastabend bilden, geleitet vom gewählten Fastabendvater. Gemeinsinn ist da noch eine Selbstverständlichkeit. Und von Zeit zu Zeit wird eben ein Fastabend gefeiert.

Im Laufe der Jahrzehnte bin ich so manches Mal durch diesen Teil des Kreises gefahren, habe die Veränderungen in den großen Flurbereinigungsgebieten gesehen und das Werden einer neuen Landschaft mit Feldern größeren Zuschnitts, neuen Wegen - und doch so mancher stillen Ecke, abseits des Verkehrs, noch erhalten geblieben trotz aller intensiven Landschaftsnutzung. Da sind die Naturschutzgebiete, wie das Lechtegoor und das Wittefehn, verborgen hinter Bäumen und Büschen, übriggebliebene Flachmoore, wie es sie einst vor allem nördlich von Langen in größerer Zahl gab. Und taucht man nur wenige hundert Meter entfernt von der Bundesstraße 70 ein in die Stille des Waldes, in die Dünenlandschaften von Wintermanns-, Speller- und Herbersand, so ist man sogleich in einer anderen Welt, anscheinend fern von vor Fülle strotzenden Maisäckern und langen Geraden der Wege und Gräben. Eine "erhaltene" Landschaft ist auch der Thuiner und Frerener Wald, durch den sich der Holländerweg hinzieht, so genannt nicht, weil Holländer ihn angelegt oder befahren hätten, sondern durch drei Jahrhunderte die zogen, die aus dem nördlichen Osnabrücker Land und östlichen Emsland als Erntearbeiter im benachbarten Holland schufteten und mit einigen Gulden zum Ende des Sommers zurückkehrten. Kiefernbestände im westlichen, Mischwaldbestände im östlichen Teil und sogar kleine Laubwaldbestände im Frerener Holz schaffen eine abwechslungsreiche Waldlandschaft. Eine Schlucht im Wald trägt den düsteren Namen Teufelsküche. Im Volksmund hält sich die Sage von Räubern, die hier gehaust und heimkehrende Hollandgänger überfallen haben. Im Urkundenbuch von Thuine belegt ist die Ermordung einer Grete Schepers durch einen Hermann Dust (Doest) aus Bawinkel. Von hier sind es 20 Minuten hinüber zum Saller See. Als man vor 25 Jahren ein Entwässerungsprojekt plante für das Wiesental, durch das ein Bach floß, kam die Idee auf, den Bach zu stauen und zugunsten eines Erholungsgebietes mit Campingplatz und Ferienhäusern einen See zu schaffen: Statt Entwässerung Bewässerung. Längst sind die Uferzonen bewachsen, bietet die kleine Insel Nistplätze für die Vogelwelt, ist der See mit der gepflegten Gaststätte auf dem alten Saller Hof Anziehungspunkt für viele Besucher geworden. Ein vom Landkreis und den Gemeinden Lengerich und Freren gebildeter Verein ist Eigentümer geworden und sorgt nun dafür, daß alles seine Ordnung hat. Dem Wanderer und Radfahrer bieten sich von hier viele Ziele. Nicht weit ist es zum Mühlenteich bei Ramings Mühle, ein Platz zum Träumen, während das Wasser über das Mühlrad plätschert. Schon vor 400 Jahren stand hier eine Wassermühle, wenig weiter am Weg nach Handrup dann Hesemanns Mühle, halb so alt wie die auf dem Raming, beschützt von mächtigen Eichen.

Zufälle, wenn es solche waren, haben dem östlichen Kreisgebiet Institutionen besonderer Bedeutung beschert. Da ist einmal das Mutterhaus der Thuiner Franziskanerinnen zu nennen, mit zugehörigem Krankenhaus und einer Internatsschule für Grundschüler und mit der Landfrauenschule und Ausbildungsstätte für Dorfhelferinnen im Gut Hange. Vom Mutterhaus St. Georgstift Thuine werden die Verbindungen in die Welt gehalten, nach Japan, Indonesien, Süd- und Nordamerika. In Freren bildet die DEULA (Lehranstalt für Landwirtschaft, Technik, Umwelt) junge Landwirte in allem aus, was die Technik auf dem Bauernhof an Arbeiten fordert.

Das Missionshaus Handrup bietet mit seinem Gymnasium 1000 Jungen und Mädchen die Möglichkeit der Schulausbildung bis zum Abitur. Was vor Jahrzehnten Ausnahme war, ist dies heute keineswegs mehr, denn ein vom Landkreis organisiertes Transportsystem ermöglicht den Schülern aus den Dörfern der Samtgemeinden Spelle, Freren, Lengerich, Herzlake, aus Fürstenau und sogar Ankum, das "abgelegene" Gymnasium in Handrup zu besuchen, das zum zweitgrößten Gymnasium im Emsland geworden ist, nachdem das Schulwesen doch manche Reform erlebt hat. Mir fällt ein, wie ich vor zwei Jahrzehnten einen Schriftsteller zu einem Besuch in Handrup begleitet habe, über den er anschließend schrieb, was wohl auch heute noch Gültigkeit hat:

"Reformen muß man vorziehen, um sie mit eigenem Inhalt füllen zu können", sagte der Pater, Direktor des Gymnasiums zu Handrup, der uns in seinem Arbeitszimmer empfangen hatte. Er gehört zum Orden der Herz-Jesu-Priester: ein noch junger Mann von jener natürlichen Würde und Autorität, die sich aus der freiwilligen Anerkenntnis strenger Ordnungen, aus der Hingabe an die Sache eines Glaubens ergibt. Er sprach von dem großen Potential an Begabungen, das das arme Emsland lange Zeit nicht nutzen konnte und das sich jetzt gleichsam eruptiv in die Schulen entlädt. Und er sprach von seiner Entschlossenheit, die ihm Anvertrauten so auszurüsten, daß sie der Welt draußen begegnen können, ohne Gefahr zu laufen, sich selbst dabei verlieren zu müssen."

Wie damals gilt auch heute für den Unterricht die Gesamtausrichtung auf christlicher Grundlage. Für einen Besuch in Handrup müssen Schüler und ihre Familien die weiten Wege in Kauf nehmen.


Immer wieder ist mir das Wort "Veränderung" in die Zeilen geraten. Solche Veränderungen betreffen nicht nur die Landschaft, sondern wirken bis tief in die Familien hinein. Da erzählte mir ein Bauer aus Messingen, nicht ohne Stolz, aber auch mit ein wenig Wehmut, von seinen vier Kindern, die nach dem Abitur - in Handrup - studiert haben und nun über Deutschland verteilt ihren Beruf ausüben. Und der Hof? Er winkte müde ab. Mit seinen 22 ha Ackerfläche sei heute nicht mehr genügend zu verdienen. Auch dies ist inzwischen zur Wirklichkeit unserer Tage geworden. Daran schließt sich die Frage, wie denn überhaupt das Leben in den Dörfern zwischen Bawinkel und Venhaus weitergehen wird, nicht das in den Mittelpunktorten der Samtgemeinden, sondern in den kleineren, weniger bedeutenden, von der Bauentwicklung weniger betroffenen. Solche Fragen drängen sich dem auf, der die Zusammenhänge im geschichtlichen Rahmen betrachtet. Denn wo, wie in diesem Teilraum des Kreises, die Landwirtschaft noch ihre Bedeutung für Einkommen und Wohlstand vieler Bewohner und die Erhaltung der Landschaft hat, hängt vieles von der Agrarpolitik ab, die in Brüssel gemacht wird. Darüber sprach ich mit einem Bauern, der sich noch an das Ende des Ersten Weltkrieges erinnern konnte. Seinen Hof hatte er durch die Zeiten gebracht, durch gute und schlechte, in einen allgemeinen Pessimismus stimmte er nicht ein: "In der Landwirtschaft gibt es immer mal gute und wieder schlechte Jahre. Die müssen wir durchstehen."

Quelle:
Werner Franke: Dörfer zwischen Feldern, Wiesen und dem Wald (Auszug);
Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes Band 40, Verlag des Emsländischen Heimatbundes 1994, S. 108-153





Wer hat seine Beobachtungen aufgeschrieben ?


Quelle: www.heimatarchiv.de zurück