Brauchtum nach der Geburt eines Kindes vor 100 Jahren
Was war "Kilmer" oder "Kinnermaöhlken" um die Jahrhundertwende?
Das frohe Ereignis der Geburt eines Kindes wurde gleich in den ersten Stunden den Nachbarn und Verwandten angesagt. Die Hebamme hatte das Kind in Windeln und "Lur" (Einschlagtuch) fest und warm verpackt und mit einem Wickelband von oben bis unten eingerollt, damit seine Glieder sich strecken und die neugierigen "Bekiekers" es auch "bören" (heben) konnten, um sein Gewicht zu prüfen.
Die Taufe wurde meist schon auf den zweiten oder dritten Tag festgelegt. Die Taufpaten waren ja in erreichbarer Nähe und nach herkömmlichem Brauch in bestimmter Reihenfolge vorgesehen. Zunächst stand das Patenrecht den Großeltern der neuen Generation zu, dann folgten die Geschwister. "Pate stohn" war ein Ehrenamt, und wer dazu auserkoren war, kam für einen Tag "upt hoge Stöhlken" (auf den hohen Stuhl - Ehrenplatz).
Ein Junge wurde während der Taufe vom Patenonkel gehalten, ein Mädchen von der Patentante. Der zweite Pate durfte nur "Föte hollen", das heißt, die Hand auf die Füßchen des Täuflings legen. Der erste Nachbar mußte den "Döpwagen" zur Kirche fahren. Er bekam dafür ein Trinkgeld.
Um den Namen des neuen Erdenbürgers brauchte man sich nicht den Kopf zu zerbrechen, den bestimmten meistens die Paten nach ihrem eigenen.
Der kirchlichen Feier folgte ein Umtrunk beim Kaufmann im Dort, der auch schon mal ausartete. Die Erinnerung an diesen Brauch bringt heute noch manche ältere Menschen zum Schmunzeln. Es soll, so erzählte man sich scherzhafter weise, auch schon vorgekommen sein, daß Hebamme und Paten ohne Kind heimkehrten.
An einem der folgenden Tage, kamen die Nachbarfrauen mit einem großen Korb voll nahrhafter Leckerbissen. Sinn der Sache war; wegen der in vielen Fällen herrschenden Armut, bei oft großer Kinderzahl, auch bezüglich der Nahrungsmittel, etwas beizusteuern.
In dem Korb befanden sich: Kaffeebohnen und Zucker, damit die junge Mutter sich eine Tasse Kaffee mit einem geschlagenen Ei machen konnte. Dicke und lange "Beschüte" (Zwiebäcke) dazu. Gute Butter, denn der dicke Zwieback mundete erst recht mit dicker Butter darauf. Kandis, braun und weiß, zum Vorbeugen gegen Erkältungskrankheiten. Getrocknete Pflaumen, zur Regulierung des Darms bei all den üppigen Sachen, die sie sonst nie bekommen konnte. Eine Flasche Anis- und Fencheltee zur Beruhigung des Kindes und der Mutter, durfte auch nicht fehlen, da dieser Nachmittag mit Aufregung und Anstrengung verbunden war.
Die Mutter wurde gelobt, vor allem aber das Kind geprahlt. Zum Schluß verabschiedete sich eine nach der anderen mit "gut gohn!", "munter hollen!", "seit to, dat Ih ne grot kriet!" und dann "bis todt nächste Johr!"
Dieser schöne Brauch kam nach dem zweiten Weltkrieg zunächst vielerorts aus der Mode, ist aber in den letzten Jahren wieder aufgelebt.
Hanni Spieker
Quelle:
Lengericher Geschichte(n), Nr. 2, Heimatverein für das alte Kirchspiel Lengerich e.V., Lengerich 1996, S. 21
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