Familie Bendix Heilbronn
60. Jahrestag der Reichspogromnacht
9./10. November 1938
Wir alle haben aus vielen Berichten, Büchern, Filmen usw. schon oft von den schrecklichen Ereignissen erfahren, die zu dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte geführt haben. Die Älteren unter uns haben diese Zeit sicher noch in Erinnerung. So mancher mag vielleicht nicht mehr daran denken, es geht aber um die Geschichte unseres Volkes und letztlich auch um Heimatgeschichte. Denn auch in unserer Gemeinde lebten über viele Generationen hinweg jüdische Familien als Nachbarn, Freunde, Geschäftspartner.
Diese Mitbürger waren anerkannte und angesehene Glieder unserer Gemeinde, gerngesehene Gäste, Gastgeber und Vereinskollegen, über mehr als ein Jahrhundert.
Dies alles änderte sich nach der Machtübernahme der NSDAP im Jahre 1933. Von Monat zu Monat eskalierte die Unterdrückung der Juden und die Reichspogromnacht war der Auftakt zur Verfolgung und Entrechtung die schließlich in der systematischen Ermordung dieser Menschen endete.
An dieser Stelle soll einmal erinnert werden an die jüdischen Familien, die bis zu diesen furchtbaren Tagen in unserer Gemeinde gelebt haben.
Quelle:
s.u.
Familie Abraham Heilbronn
Die Familien Heilbronn sind seit ungefähr 1825 ständig in Lengerich ansässig. Abraham Heilbronn wurde am 6.12.1874 als ältester Sohn der Eheleute Philipp Heilbronn und Rieke Wolf in Lengerich geboren. Er war von Beruf Handelsmann, das heißt, er handelte überwiegend mit Vieh. Er heiratete 1906 Meta Horn aus Wüstensachsen in der Rhön. Der Ehe entstammten sechs Kinder: Leonard, geboren 1908, Bertha, geboren 1909, Paul, geboren 1912, Julius, geboren 1914, Meinhard, geboren 1916 und Emil, geboren 1920.
Die Familie Heilbronn hatte ein gutes Auskommen in Lengerich, war beliebt und voll in das Gemeindeleben integriert. Die Kinder besuchten die evangelische Volksschule und sangen sogar bei besonderen Feierlichkeiten in der evangelischen Kirche im Chor mit. Die Familie praktizierte ihren jüdischen Glauben konservativ und gewissenhaft, aber nicht orthodox. Sie besuchte sowohl die Synagoge in Lingen, als auch die Beträume in Freren und Fürstenau. Zum rituellen Schächten kam entweder Salomon Fromm aus Freren oder Nathan Stoppelmann aus Fürstenau.
Nach 1933 kam es in Lengerich zu Schwierigkeiten, die aber nicht so gravierend wie in Freren, Fürstenau und Lingen zu sein schienen, da viele Lengericher nach wie vor zu "ihren Juden" standen und mit ihnen verkehrten. So spielte Herr Heilbronn seinen Skat mit dem Apotheker Kohne, Herrn Pruisken und Herrn Berstemann weiter. Der Arzt Dr. Sunder-Plaßmann behandelte die jüdischen Menschen, ohne von ihnen eine Rechnung zu verlangen. Als Bertha Heilbronn ihm bei ihrem Weggang einen Silberkelch schenkte, mußte er zur Annahme erst überredet werden. Als er 1945 erfuhr, daß Bertha Heilbronn das Inferno überlebt hatte, gab er ihr den Kelch zurück.
Der katholische Priester besuchte Heilbronns mehrmals. Er meinte, daß das III. Reich auch vorübergehen würde: "Kopf hoch, unser Herrgott läßt für niemanden die Bäume in den Himmel wachsen !"
Besonders bemerkenswert war das Verhalten von Gertrud Brinker, die mit Bertha Heilbronn eng befreundet war. Sie besuchte jeden Montagnachmittag nach einer Bastelstunde in der Schule ihre jüdische Freundin, um mit ihr Tee zu trinken. Als sie von der örtlichen BdM-Führerin öffentlich auf ihr "Fehlverhalten" angesprochen wurde, bekannte sie sich voll zu ihrem Verhalten und sagte, daß niemand sie an diesen Besuchen hindern könne. Diese Zivilcourage machte Eindruck, sie wurde nie wieder behelligt.
Daneben gab es auch Menschen, darunter einige Lehrer, die ihren Kindern verboten, mit den "Judenlümmeln" zu spielen.
Als die Viehhandlung unter den massiven Boykottmaßnahmen der NSDAP zu leiden hatte und die Familie von der ersparten Substanz lebte, litten die Eltern sehr unter der mißlichen Lage. Sie fingen an zu kränkeln. Beide bekamen Schlaganfälle, so daß sie teilweise gelähmt waren.
Am Morgen des 10. November 1938 stürmten SA-Leute aus Freren die Wohnung der gelähmten alten Leute, die zu der Zeit allein waren. Sie plünderten und demolierten die Räume und raubten sämtliche Ersparnisse. Als Bertha Heilbronn die demolierte Wohnung ihrer Eltern vorfand und den Raub der Ersparnisse feststellte, besaß sie den Löwenmut, zur Gestapo nach Osnabrück zu fahren, um ihre Empörung zu schildern. Sie verlangte das geraubte Geld zurück und erhielt es bis auf einen geringen Restbetrag tatsächlich ausgezahlt.
Der jüngste Sohn Emil wurde am 10. Nov. 1938 ins Spritzenhaus gesperrt und anschließend nach Lingen gebracht. Der älteste Sohn Leonard und sein Bruder Paul arbeiteten 1938 im Tiefbau in Werlte. Ab Februar 1939 kamen beide in ein "Umschulungslager" nach Bielefeld. Nachdem der jüngste Sohn Emil wieder freigelassen war, kam auch er in ein "Umschulungslager" nach Paderborn. Die Brüder Julius und Meinhard emigrierten 1937 nach New York, wo sie heute noch leben.
1940 löste Bertha Heilbronn den elterlichen Haushalt auf, nachdem sie ihre Eltern in einem jüdischen Altersheim in Berlin untergebracht hatte. In der Zeit der Auflösung schlief sie bei der Familie Fritze. Im Juni 1940 zog sie nach Wolbeck. Im Mai 1941 heiratete sie Herrn Sachs aus Bielefeld.
Im Dezember 1941 wurde sie mit ihrem Mann nach Riga 1 Lettland deportiert. Sie wohnten im Ghetto im Bezirk Hannover. Ihr Bruder Leonard starb schon vier Wochen nach seiner Einlieferung in Riga an völliger Entkräftung. Ihr Bruder Paul, der auch in Riga war und dort zum Skelett abgemagert war, starb im März 1945 in Dachau. Der jüngste Bruder Emil starb noch am 4. Mai 1945 in Ausschwitz nach der Befreiung durch die Russen an totaler Entkräftung.
Frau Bertha Sachs, geb. Heilbronn, hat im Dezember 1941 bis zu ihrer Befreiung am 10. März 1945 schreckliche Qualen und Erlebnisse hinter sich gebracht: im lettischen Winter eingesetzt als Schneekommando, als Putzfrau bei der Wehrmacht, als Häftling im Zentralgefängnis für 30.000 Frauen bei Riga, für 7 Wochen mit 41 Frauen in einem Raum. Im September 1943 kam sie ins KZ Kaiserwald, wo sie im Tiefbau arbeiten mußte. Ihre Behausung waren Zelte auf morastigen Wiesen. Ab August 1944 mußten die KZ-Insassen gen Westen marschieren, weil die Russen kamen. Es spielten sich auf den Märschen schreckliche Dinge ab. Wer nicht mehr weiter konnte, wurde erschossen oder erschlagen. Wer nicht mehr arbeiten konnte, bekam keinerlei Verpflegung und mußte verhungern, bzw. wurde von ukrainischen Hilfskräften erschlagen. Wenn die "Todestrecks" durch die Dörfer kamen, stürzten sich die Frauen in die Hundehüllen, um nach eßbaren Sachen zu suchen. Aus verendeten Pferden wurde das rohe Fleisch herausgerissen und gegessen.
In der Nähe von Schienow wurden die Frauen am 10. März 1945 befreit. Die meisten von ihnen kamen in das Krankenhaus von Lauenburg. Frau Bertha Sachs blieb dort bis zum 16.06.1945, kehrte dann nach Berlin zurück, wo sie erfuhr, daß ihr Mann lebte. Am 9. August 1945 kehrten beide nach Bielefeld zurück, wo beide heute noch leben.
Neben der Familie Abraham Heilbronn lebten in Lengerich zwei weitere Familien Heilbronn. Josef Heilbronn mit seiner Frau Rosa, geb. Schaper aus Schapen und Bendix Heilbronn mit seiner Frau Hanna.
Quelle:
s.u.
Familie Bendix Heilbronn
Die Familie des Viehhändlers Bendix und Hanna Heilbronn ging mit ihren Kindern Philipp, Erna, Fritz und Hella 1939 nach Holland, nachdem sie ihr Haus verkauft hatten. Philipp, der älteste Sohn, hat die gesamte Kriegszeit in Holland versteckt überlebt, während die Eltern und seine drei Geschwister in das holländische Lager Westerbork kamen. Die Eltern wurden nach Theresienstadt gebracht und dort ermordet. Erna, Fritz und Hella hatten das unwahrscheinliche Glück, nicht aus Westerbork abtransportiert zu werden, sondern sie sollten das "leergeräumte" Lager "in Ordnung" bringen. Sie wurden befreit und leben heute in den USA.
Aus "Beitrag zur Geschichte der Juden im Raum Lingen" von Lothar Kuhrts, Freren
Quelle:
Lengericher Geschichte(n), Nr. 4, Heimatverein für das alte Kirchspiel Lengerich e.V., Lengerich 1998, S. 6-8