Zum Volkstrauertag Eine Erinnerung aus Riga
Auch in diesem Herbst sind wir am Volkstrauertag eingeladen, "der Opfer von Krieg und Gewalt" zu gedenken. Diesem trauernden und ehrenden Gedenken mag eine persönliche Erinnerung aus der lettischen Hauptstadt Riga dienen.
Seit einigen Jahren habe ich enge Kontakte zur Ev.-luth. Kirche in Lettland. Ich konnte kirchlichen Mitarbeitern Besuche in Deutschland ermöglichen und Hilfen in Lettland organisieren. Einige Male war ich nun auch selbst in Lettland, habe Vorträge gehalten, gepredigt, Besuche gemacht. Immer bin ich freundlich und liebevoll aufgenommen worden.
Dabei sollte, wer von Lengerich nach Riga reist, sich einer anderen, schrecklichen Fahrt nach Riga erinnern - jenes Transportes, mit dem im Dezember 1941 etwa 1.000 Juden aus dem Emsland, der Grafschaft Bentheim, Ostfriesland, dem Osnabrücker Raum und aus Nordwestfalen deportiert wurden. Diesem Transport gehörten auch in Lengerich aufgewachsene Angehörige der Familie Abraham Heilbronn an: Leonard Heilbronn (33 Jahre), Berta, verheiratete Sachs (32 Jahre) und Paul Heilbronn (29 Jahre). Wahrscheinlich wurde auch der ebenfalls in Lengerich aufgewachsene Josef Heilbronn mit seiner Frau Rosa (geb. Schaper aus Schapen) nach Riga verschleppt. Am 11. Dezember 1941 wurden die im Kreis Lingen verbliebenen Juden auf Lastwagen verladen und in die Osnabrücker Viehhallen gebracht. Vieles spricht dafür, wenn auch das Datum nicht genau bekannt ist, daß der Sammeltransport (Viehwagen!) am 1. Weihnachtstag 1941 in Osnabrück abfuhr. Dies wäre besonders zynisch. An Weihnachten gedenkt die Christenheit der Geburt ihres Herrn von einer jüdischen Mutter. Und an Weihnachten hatten früher die jüdischen Kinder Heilbronn, die die ev. Volksschule besuchten, gemeinsam mit den christlichen Kindern in der evangelischen Kirche im Gottesdienst gesungen.
Lettland, seit 1919 ein freies Land, im Hitler-Stalin-Pakt von 1938 aber dem stalinistischen Terror preisgegeben, war 1941 in den Machtbereich Hitler-Deutschlands geraten. Die SS richtete sogleich eine Reihe von Lagern in der Umgebung von Riga ein.
Der Zug fuhr von Osnabrück nach Bielefeld, dann über Berlin und Königsberg zum Rangierbahnhof Skirotava vor Riga. Drei Tage dauerte die schreckliche Fahrt. Bei 20 Grad Kälte mußten die Deportierten nun noch den langen Fußmarsch ins Rigaer Ghetto machen. Die im Ghetto gefangengehaltenen lettischen Juden waren vorher am "Blutsonntag" des 30. November 1941 und am 8. Dezember 1941 in der Verantwortung der SS erschossen worden: 27.500 lettische Juden.
In Riga starb Leonard Heilbronn an völliger Entkräftung bereits nach etwa vier Wochen. Berta Sachs geborene Heilbronn wurde im lettischen Winter bei Schneekommandos eingesetzt, dann als Putzfrau bei der Wehrmacht. Schließlich wurde sie im Rigaer Zentralgefängnis für 30.000 Frauen mit 41 Frauen in einem Raum gefangengehalten. Vor der vorrückenden russischen Armee wurde Frau Sachs nach Westen transportiert, am 10. März 1945 aber befreit. Auch ihr Mann hat überlebt; beide kehrten im August 1945 nach Bielefeld zurück.
Paul Heilbronn hat zwar die Zeit in Riga durch die Hilfe des Simon Schwarz aus Freren überstanden. Er starb aber im März 1945 im KZ Dachau.
Die Eheleute Josef und Rosa Heilbronn sind wahrscheinlich in Riga umgekommen.
Nahe bei Riga auf dem Gelände des Lagers Salaspils wurde eine große Gedenkstätte gebaut. Am Eingang steht (in lettischer Sprache): "Hinter diesem Tor schreit die Erde." Heute ist es ein stiller Ort inmitten von Wäldern. Als ich dort war, blühte auf der Hauptlagerstraße ein Meer von Glockenblumen. Aber in der Gedenkstätte tickt eine Uhr - eine Totenuhr, die daran erinnert, daß die Zeit zwar vergeht, das schreckliche Geschehen aber nicht vergessen werden darf.
Plastik "Der Gestürzte" in der Gedenkstätte Salaspils/Riga
Auch das Gefängnis in Riga habe ich besucht und im Gefängnis-Gottesdienst gepredigt.
Von der Synagoge im Ghetto von Riga ist nur eine Ruine übriggeblieben, die ebenfalls als Gedenkstätte hergerichtet wurde. In der Synagoge habe ich im Gedenken insbesondere an die aus Lengerich nach Riga deportierten Angehörigen der jüdischen Familien Heilbronn sieben weiße Nelken niedergelegt.
Pastor Alfred Mengel, Lengerich
Quelle:
Informationsblatt der Samtgemeinde Lengerich - Nr. 188, Lengerich November 1993
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