Berichte des früheren Bürgermeisters von Lengerich - Jakob Jansen, zum Kampfgeschehen in der hiesigen Gegend

Vom 1. November 1944 bis zum 20. März 1945 lag ich wegen Ausheilung einer feuchten Rippenfellentzündung im Lazarett in Miltenberg am Main. Der Rückzug der deutschen Truppen vollzog sich an allen Fronten; in den Nächten hörte man den immer stärker werdenden Kanonendonner aus der Gegend von Karlsruhe-Landau. Alle Lazarettkranken, die gehfähig waren, wurden deswegen in andere Lazarette geschickt oder bekamen Genesungsurlaub. Ich erhielt Genesungsurlaub vom 20. März bis 11. April 1945 nach meinem Wohnort Lengerich, Kreis Lingen. Die Züge waren überfüllt, und ich konnte nur noch einen Platz auf einem offenen Güterwagen finden. Der Zug fuhr in Richtung Fulda. Da jedoch ein reger feindlicher Luftverkehr herrschte, stand der Zug tagsüber in einem Tunnel und fuhr erst in der Nacht weiter über Fulda, Kassel, Hannover nach Bremen. Von Bremen aus ging die Fahrt über Leer nach Lingen, und in den Abendstunden erreichte ich Lengerich.

Nach einer pflichtgemäßen Meldung beim Bürgermeister Gerhard Pape erfuhr ich, daß ein Befehl vorliege, wonach sich alle Wehrmachtsangehörigen, ob Kranke oder Urlauber, bei der Standortverwaltung in Lingen melden müßten.

In den Kasernen wimmelte es von Soldaten aller Waffengattungen, so daß beim stündlichen Antreten zur Feststellung der Truppenzugehörigkeit strenge Maßstäbe angelegt wurden. Soldaten ohne Papier wurden besonders genau überprüft, und meines Wissens tagte in den oberen Kasernenräumen ein Kriegsgericht. Es wurden aber keine Todesurteile ausgesprochen, sondern lediglich Arreststrafen verhängt. Soweit zu diesem Punkt meiner Erinnerung.

Inzwischen waren die alliierten Truppen, Engländer und Kanadier, in Bentheim. Da ich einer Pioniereinheit angehört hatte, bekam ich mit einigen Soldaten den Auftrag, die Kanalbrücke am Friedhof zur Sprengung vorzubereiten. In den Depots der Kasernen waren keine Sprengmittel, und daher fuhren wir in der Nacht mit einem Lastwagen zum Flugplatz Plantlünne, um dort mehrere Fliegerbomben aufzuladen. Das ging nur sehr langsam vonstatten, da feindliche Bomberverbände den Flugplatz überflogen und wir uns eingraben mußten. In den frühen Morgenstunden kamen wir zur Friedhofsbrücke zurück und verlegten die Bomben auf der Feindseite der Brückenfahrbahn. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, bestand die Fahrbahn aus Holzbohlen. Von einer unbekannten Einheit bekamen wir gewerbliche Sprengmittel, da die vorschriftsmäßigen wetterfesten Pioniersprengmittel nicht aufzutreiben waren. Die Sprengsätze wurden angebaut und die Zündschnur verlegt. Im tiefergelegenen Gelände zwischen der Auffahrt zur Brücke und der Friedhofsmauer hatten wir in einem ausgehobenen Loch die Zündstelle eingerichtet. Dieses Loch entsprach keineswegs den in Friedenszeiten eingeübten Sicherheitsbestimmungen, aber die Zündschnur war nicht länger.

Zur Verteidigung der Brücke stand direkt bei der Friedhofsmauer ein Französischer Einmannpanzer, und die Bedienung bestand aus einigen Infanteriesoldaten. Wir hatten das Haus rechts der Auffahrt, direkt am Kanal gelegen, als Quartier genommen und hatten so bei dem anhaltenden Regen ein Dach über dem Kopf.

In der Zwischenzeit bekam ich vom Standortkommandanten den Auftrag, einen Holzsteg über die Ems bei Schepsdorf zu sprengen, und das am hellen Tage. Man hörte schon einzelne Schüsse; ich rannte mit zwei Stück Tellerminen fast bis zur Mitte des Holzsteges und brachte die Tellerminen seitwärts an den Tragebalken an und zündete mit einer sehr kurzen Zündschnur. Ich hatte kaum den Holzsteg am diesseitigen Ufer erreicht, als die Tellerminen detonierten. Soweit ich die Lage überblicken konnte, war die Holzbrücke unterbrochen. Ob die Unterbrechung eine strategische Bedeutung hatte, konnte ich in der gegebenen Situation nicht beurteilen.

Da sich das Kriegsgeschehen stündlich änderte, war ich des öfteren zum Befehlsempfang in der Kaserne. Ich weiß noch, daß bei der Sprengung der Emsbrücke in Schepsdorf alle Fensterscheiben auf der der Brücke zugelagerten Kasernenseite zersprangen. Ich saß in einer Stube auf dem Bettrand, und wie durch ein Wunder wurde ich von den Splittern nicht verletzt.

Meines Wissens war diese Sprengung das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch der Truppe. Es herrschte keine Ordnung mehr, und die Kasernen wurden in kurzer Zeit in wilder Flucht verlassen. Die Bevölkerung schien große Not zu leiden, denn ich sah auf dem Weg von der Kaserne zur Friedhofsbrücke die ersten Zivilisten, meist Frauen, mit Fahrrädern auftauchen, welche zum Verpflegungsdepot fuhren, um noch etwas Eßbares zu holen. In guter Erinnerung ist mir noch eine Frau, die einen Sack Erbsen oder Bohnen auf ihrem Fahrrad beförderte. Sie lief schnellen Schrittes, aber das Laufen war beschwerlich, da der Sack quer über dem Tretlager des Damenfahrrades lag. Die feindliche Artillerie schoß vereinzelt auf Lingen, und ein Einschlag detonierte auf dem Kasernengelände. Die Frau war so erschrocken, daß das Fahrrad aus ihren Händen glitt. Bei dem Aufprall zerriß der Sack, und leider war an der Stelle auf Grund des Dauerregens eine große Regenpfütze, und der Inhalt des Sacks lag im Schmutzwasser. Die Frau versuchte noch, etwas von dem kostbaren Gut in ihre Schürze zu bergen, aber da weitere Einschläge erfolgten, lief sie ohne Sack und Fahrrad davon. Ich habe dieses Geschehen von einem seitlichen Kellereingang eines Kasernentraktes beobachtet.


Quelle: s.u.

Vor dem Krieg war Jakob Jansen in einer leitenden Funktion
im Lengericher Reichsarbeitsdienstlager tätig, das in dem kleinen Waldstück
des Grafen Droste - Vischering gelegen war.



Als ich in einer Feuerpause die Friedhofsbrücke erreicht hatte, waren meine Leute und auch die Infanteristen nirgendwo mehr zu sehen. Als mein Blick durch das Fernrohr zur Altenlingener Brücke ging, sah ich, daß dort der Feind bereits eine Pontonbrücke errichtete. Wahrscheinlich hatte diese Tatsache meine Leute und auch die Infanteristen veranlaßt, sich zurückzuziehen, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Mir blieb nunmehr keine andere Wahl, als in eigener Verantwortung die Brücke zu sprengen. Als ich zur Zündstelle lief und gerade das Zündloch erreicht hatte, kam ein Volltreffer der Artillerie zwischen der Friedhofsmauer und dem französischen Panzer. Ich wurde von Dreck überschüttet, blieb aber unverletzt, da der Panzer als Splitterfang diente. Bei der Zündung für die Friedhofsbrücke gab es nur einen dumpfen Knall, und die Brücke blieb stehen. Ich habe mir noch die Sprengstelle angesehen; es waren nur einige Bohlen beschädigt. Die gewerblichen Sprengmittel waren gegenüber den Pioniersprengmitteln nicht wetterfest, und somit war ihre Durchschlagskraft sehr gering. Aus heutiger Sicht ist natürlich die Fehlzündung positiv zu bewerten, aber ich gestehe es offen, mir war damals nicht sehr wohl zumute.

Mit einem Revolver 08/15 in der Hand flüchtete ich nach Übersteigen der Friedhofsmauer quer über den Friedhof bis hin zu den ersten Wohnhäusern. Dort bekam ich von einer Familie, die sich im Keller aufhielt, eine Tasse Kaffee und etwas zu essen. Zu Fuß ging ich durch die menschenleere Stadt bis zum Bahnübergang Georgstraße und weiter bis zur Einmündung "Am Botterkamp". Hier kam aus Richtung Freren ein deutscher Jeep, besetzt mit einem Fahrer und einem Offizier. Der Offizier wollte noch zur Kaserne bzw. zu seinen Familienangehörigen. Die Unterredung dauerte nicht lange, denn jenseits des Bahnüberganges tauchte ein Panzer auf, der nur den Feindmächten gehören konnte. Im Hause Klukkert in der Georgstraße habe ich noch eine kurze Rast eingelegt; man gab mir zu essen, und dann ging ich querfeldein zur Reichsbahn, um dann bei der Überführung der damaligen Kleinbahn über die Reichsbahn der Kleinbahnstrecke nachzugehen bis Brögbern. Von der Ems her dröhnten die Panzer, doch hier war mein Fußmarsch ungefährlich.

Auf einem Bauernhof in Brögbern, der Name ist mir nicht im Gedächtnis geblieben, traf ich auf einen Gefechtsstand der deutschen Artillerie, die mehrere Geschütze in Stellung gebracht hatte. Ganz plötzlich kam der Befehl zum Aufbruch; ich mußte meine seit einer Woche überfällige Rasur unterbrechen. Auf einen Munitionswagen konnte ich aufspringen, und so fuhr ich mit bis Lengerich. Mit einem Fahrrad ging´s weiter bis Richtung Fürstenau. Links vor den Waldungen des Gutes Lonne lag ein Divisionsstab. Der diensttuende Offizier gab mir den Befehl, das Pionierbataillon, welches sich im Raum Beesten aufhalten sollte, aufzusuchen. Auf den Straßen nach Fürstenau, Freren und Beesten hasteten zurückflutende Zivilisten und Truppenteile.

Auf dem Hof des Bauern Lucas in Beesten war der Gefechtsstand des Pionierbataillons, und ich wurde Kompaniechef der dritten Kompanie; der Kompaniechef dieser Einheit war einen Tag zuvor bei Rheine gefallen. Bei unseren Verbänden fehlte jeder Zusammenhalt, und was wir beim Vormarsch in Frankreich auf französischer Seite gesehen hatten, war nun bei uns der Fall. In der Nacht brachen wir noch auf und kamen bis Gut Hange. Da ich vom Lazarett her noch ein Genesender war, hatten mich die Strapazen bei dem schlechten Wetter doch sehr mitgenommen. Der Bataillonskommandeur sah dieses Faktum ein; ich wurde vom Bataillonsarzt krank geschrieben, und ein Motorradfahrer brachte mich am 3. April 1945 ins Krankenhaus Lengerich.

Am 7. April 1945 (Samstag vor Weißem Sonntag) wurde Lengerich von den alliierten Truppen eingenommen, und ich wurde Gefangener der englischen Truppen. Beim Kampf um den Ort Lengerich sind 17 deutsche Soldaten gefallen. Sie wurden auf der freien Fläche beim Seiteneingang der evangelischen Kirche beigesetzt und wurden nach einigen Jahren zum Soldatenfriedhof Thuine übergeführt.


Quelle:
Lengericher Geschichte(n), Nr. 5, Heimatverein für das alte Kirchspiel Lengerich e.V., Lengerich 1999, S. 22-24





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Quelle: www.heimatarchiv.de zurück